Ingo Nussbaumer die Idee des Blicks

Man muß die Welt ins Subjekt setzen, damit das Subjekt für die Welt sei. (1)
Gilles Deleuze

„... alle jedoch (lassen die Anfänge der Malerei) aus dem mit Linien umzogenen Schatten eines Menschen ihren Ursprung nehmen” (2), so beschreibt Plinius der Ältere die Vorstellungen der Ägypter, Griechen und Römer zur Entstehung der Malerei und fügt an anderer Stelle eine Fabel ein, die später auch als die Geschichte von der Erfindung der Malerei bezeichnet wird. Diese Bemerkung ist notwendig, weil die Fabel eigentlich die Erfindung der Plastik schildert, und die Episode von der Malerei nur wie eingestreut scheint:

Doch genug und mehr als genug von der Malerei, denn auch die Bildformelkunst (Plastik) muß hier noch beigefügt werden. Durch das Werk derselben Erde (3) erfand der Töpfer Butades von Sicyon zuerst aus Thon ähnliche Gestalten zu bilden, und zwar durch die Bemühung seiner Tochter, welche aus Liebe zu einem Jünglinge, als dieser in die Fremde ging, den Schatten seines Gesichtes bei Licht an der Wand mit Strichen umzog, worauf dann ihr Vater Thon legte und einen Abdruck machte, welchen er mit dem übrig gebliebenen Töpfergeschirr im Feuer hart werden ließ und ausstellte […] (4)

Diese Fabel von Cora (5), der Tochter des Töpfers Butades, wurde gelegentlich auch zu einem Mythos (6) vom Ursprung der Malerei hochstilisiert, wodurch bestimmte Passagen der Erzählung bedeutungsschwerer interpretiert werden können, wie: Es ist „eine von Trennung und Mangel bedrohte Liebe, die zur Erfindung der Malerei führt.&#148 (7) Wie immer nun diese Geschichte aufgefaßt wird, ob als Fabel oder Mythos, sie schildert eine mimetische Konfiguration der Malerei, wenn Cora mit dem Griffel die Konturen des Schattenbildes in die Wand ritzt und sozusagen nachbildet. Die Entdeckung der mimetischen Struktur im Konnex von Licht und Schatten und gleichsam das Bedürfnis, dieser Spur oder dieser Einschreibung aus Licht und Schatten zu folgen, beschreibt hier eine malerische conditio sine qua non. Die heuretische (8) Konfiguration der Malerei, d. h. jene, die von inneren Ideenbildern inspiriert ist, fand dagegen weit mehr im begrifflichen Diskurs, und das bereits schon in der Antike, ihren Ausdruck. (9) Sie unterstreicht den ideellen Charakter oder den Ursprung der Malerei in antizipierenden Ideen (notiones anticipate).

Im 17. Jahrhundert schuf beispielsweise Zuccari (10) im Disegno esterno (Zeichnung nach äußerem Vorbild) und Disegno interno (Zeichnung nach innerem Vorbild) eine Begrifflichkeit, mit der er den mimetischen und heuretischen Charakter der Kunst zu kontrastieren imstande war. Der Disegno interno wird dort durch verschiedene Merkmale charakterisiert: Er ist etwas, das man sich vorstellt; ein innerer Begriff, der im Geist gebildet wird; Gegenstand des Intellekts (und nicht Gegenstand der Sinnlichkeit); Ordnung, Regel und göttlicher Funke. (11) Der entscheidende Aspekt der Kunsttheorie Zuccaris besteht in der Betonung der ideellen Seite der Kunst. Aber sie war noch immer gebunden an eine Vorstellung der Malerei als eine – wenngleich aus dem Geiste heraus – gegenstandsdarstellende Kunst. Diese – wie ich sage – gebundene (in Gegenüberstellung zur freien) heuretische Konfiguration der Malerei wird spätestens mit dem Eintritt einer Malerei der abstrakten Formen zur Auflösung gebracht.

Es gibt aber noch einige Anzeichen und Übergänge zu schildern, welche die Differenz der älteren heuretischen Konfiguration zur modernen verdeutlichen. In diesem Zusammenhang spielt die Gegenüberstellung von disegno (Zeichnung) und colore (Farbe) zweifellos eine wichtige Rolle. (12) In der älteren Kunsttheorie führen eine ganze Reihe von Vertretern der einen oder anderen Richtung einen Kampf hinsichtlich der Prädominanz von Farbe oder Zeichnung. Historisch mündet das in den Streit der Poussinisten und Rubenisten, wobei auch die Erörterung des streng-linearen und frei-malerischen Stils zur Sprache kam. Die Rubenisten vertraten die Auffassung, daß der scharfbegrenzte Konturlinearismus (dem auch das Vorbild der antiken Skulptur ideologisch anhing) zu verwerfen sei, zumal man ebenso in der Natur keine scharfbegrenzten Linien nach dem Muster einer Zeichnung antreffe. (13) Erst, indem Delacroix im 19. Jahrhundert die begriffliche Differenz zwischen einer Konturenzeichnung (dessin par le contour) und einer (inneren) Volumenzeichnung (dessin par les mileux) schuf, wurden gewisse Zielvorstellungen der traditionellen Zeichnung mit der polarisierenden Gegenüberstellung von disegno und colore erschüttert. „Delacroix zeichnet und malt auf vergleichbare Weise. Er malt wie er zeichnet, indem er das Malen und das Zeichnen durchaus ähnlichen Prinzipien unterwirft, wenn es jedesmal darum geht, von einem Undifferenzierten zum Differenzierten einer Form zu gelangen […]. Materie […] ist im Verständnis von Delacroix ein Erstgegebenes, mit dem und aus dem heraus Gestaltung geschieht.” (14) Damit bahnen sich Denk- und Hervorbringungsweisen (poietische Konfigurationen) (15) an, die zur modernen heuretischen Konfiguration führen. Denn diese zeichnet sich nicht nur durch eine Negation der bloß mimetischen Konfiguration, sondern auch durch ein spezifisches Denken und Handeln mit dem zu Gestaltenden, mit den Materialien und Formen, durch ein autonomes Aufnehmen der Intention derselben aus. (16) Es ist dies nicht nur das Verfolgen einer Spur, einer Einschreibung aus Licht und Schatten, Hell und Dunkel usw., sondern ein dezidiertes Hervorbringen von Spuren, eine heuretische Poiesis der künstlerischen Form.

Der gebundenen heuretischen Konfiguration in der älteren Fassung der Malerei steht also die freie in der neuen gegenüber. Diese wird dadurch nicht weniger von Kontroversen in bezug auf Zeichnen und Malen begleitet. So bemerkt beispielsweise Frank Stella zum abstrakten Expressionismus speziell von Pollock und de Kooning: „Trotzdem war es im Grunde ein Zeichnen mit Farbe, das fast die gesamte Malerei des 20. Jahrhunderts geprägt hat. So wie ich meine Malerei entwickelte, wurde das Zeichnen immer unnötiger. Es war genau das, was ich nicht tun wollte. Ich wollte nicht mit dem Pinsel zeichnen.” (17) Stella will damit deutlich machen, daß sein Denken sich mehr und mehr von der polarisierenden Gegenüberstellung von Zeichnen und Malen entfernt, es ist ein Weder-Noch der künstlerischen Form, eine athetische und nicht synthetische Konfiguration, obgleich er das Element der Linie und das Element der Farbe in seinen Arbeiten zum Einsatz bringt. „Nicht die Elemente sind neu, sondern ihr Zusammenhang.” (18)

Den Ausdruck „athetisch” habe ich hier eingeführt, um ein Weder-Noch auf bestimmte Art und Weise zu verdeutlichen. Aussagenlogisch handelt es sich beim umgangssprachlichen Weder-Noch um eine Rejektion oder Negatkonjunktion, d. h. die aus diesem Verbindungsstück zusammengefügte Aussage ist wahr genau dann, wenn die beiden Teilaussagen der zusammengesetzten nicht wahr bzw. auch als nicht zutreffend zu beurteilen sind. Da es sich hier in der Aussage im speziellen um zwei Begriffe, „Zeichnung” und „Malerei”, handelt, wird ein Verbindungsausschluß dieser Begriffe angezeigt, d. h. eine Synthese (Vereinigung) dieser Begriffe zu einer quasi höheren begrifflichen Einheit geleugnet; vereinfacht, das zu Beurteilende läßt sich nicht unter beide Begriffe befriedigend subsumieren. Das Verhältnis nenne ich athetisch, weil mit den beiden Begriffen weder gegeneinander, noch füreinander liegende Thesen auszudrücken sind. Damit entfallen das „Entweder-Oder” wie das „Sowohl-Als auch” als die infragekommenden Partikel, die bei thetisch-antithetischen und synthetischen Formulierungen zum Einsatz kommen. Hinsichtlich der dabei verwendeten Begriffe geht es bereits um etwas anderes als um eine bloße Einordnung in ihre Begrifflichkeit oder ihre Vereinheitlichung. Sie fungieren, um eine Abgrenzung bestimmter Art vornehmen zu können. Diese besteht im wesent-lichen nicht darin, die mit den Begriffen verbundenen Konstituenzien für irrelevant zu erklären. Im Gegenteil, gerade sie bedürfen einer neuen Situierung. So werden z.B. die Linie als Element der Zeichnung wie die Farbe als Element der Malerei neu zu überdenken und zu konfigurieren sein. Durch eine neue Konfiguration entsteht eine neue Art bzw. auch ein neuer Begriff, der zwar nicht verbalisiert sein muß, aber von seinen Konstituenzien her neu entschlüsselt ist. In der Regel kommt dann doch in der Versprachlichung einer der beiden schon verwendeten Begriffsausdrücke zum Tragen, in dem man ihn mit dem Attribut des Neuen (unspezifiziert oder spezifiziert) versieht, z. B. „neue Malerei”, „neue Zeichnung”, „wilde Malerei” usw. Ich nenne ein Verfahren athetisch, wenn es im wesentlichen diesen hier genannten Zügen folgt.

Das athetische Verfahren wird im kunsttheoretischen Diskurs – ohne diese von mir hier erst eingeführte Bezeichnung zu gebrauchen – durchaus häufig eingesetzt und gezielt bei Abgrenzungen verwendet. Ich verweise nur noch zur Verdeutlichung des hier Gesagten auf zwei Stellen: Barnett Newman: „Die neue Malerei ist weder abstrakt noch surrealistisch, auch wenn sie auf abstrakte Formen und phantasievolle Inhalte zurückgreift. Sie vereinigt auch nicht, wie oft behauptet, beide Richtungen, unter besonderer Rücksicht von Mirós Stil. Richtig ist, daß sie aus diesen zwei Bewegungen stammt, der Bewegung des Abstrakten und der surrealistischen Bewegung. Sie ist eine neue Form und macht einen neuen plastischen Ausdruck sichtbar.” (19)

Donald Judd: „Mindestens die Hälfte der besten neuen Arbeiten, die in den letzten Jahren entstanden sind, gehört weder zur Malerei noch zur Skulptur. Gewöhnlich wurden sie – mehr oder weniger direkt – dem einen oder anderen Bereich zugerechnet.” (20)

Obgleich Peter Wechsler die Linie zu seinem bevorzugten Element erhebt und mit Bestimmtheit in seiner Arbeit einsetzt, diese mit dem Medium des Bleistifts auf grundiertem und pigmentiertem Papier einschreibt (21), so handelt es sich hier doch nicht einfach um ein Zeichnen bzw. eine intendierte Zeichnung. Dem Zeichnen haftet schon seiner ursprünglichen Wortbedeutung nach „mit Linien oder Strichen darstellen”, „mit einem Zeichen ausdrücken, anzeigen, nachbilden” (22) ein gewisser mimetischer Darstellungsbegriff an. Aber dies wäre noch kein Grund, den Begriff der Zeichnung seinem Gebrauch nach zu verwerfen, da er sich ja jederzeit neu definieren kann. Vielmehr ist hier von der Art des Linieneinsatzes und dem sich daraus bildenden Verdichtungsgefüge zu sprechen, welches verhindert, dem Eindruck nach von einer Zeichnung zu reden. Die Linie findet ihren Einsatz in einem ständigen Verdichten, Komprimieren, Vernetzen, Vergittern, räumlichen Verflechten zu sich herauskristallisierenden Punkten materieller Konzentration und verhindert damit die Bildung einer graphischen Form oder eines bloßen Disegno. Wechsler reizt der Widerstand, den das Material dem Medium (harte Minen/rauhes Papier) und vice versa entgegenbringt, spürt diesem als Materialforscher nach und treibt die sich daraus ergebenden Einschreibungen bis an die subtile äußerste Grenze des materiellen Eigensinns. Die so entstehenden Oberflächen beginnen nicht nur zu glänzen und zu schimmern, sondern an ihnen legen sich ebenso dem Prozeß nach samten wirkende Passagen frei. Im Verdichtungsgefüge entwickelt sich ein Duktus, der sich weder eindeutig als Zeichnung, noch eindeutig als Malerei deklariert, obgleich gerade das Element der Linie und des materiellen Stoffes zum vollen Einsatz gelangt, d. h. die Elemente in eine athetische Konfiguration geraten.

Seinen Bildbeginn beschreibt er selbst so: „Überall gleichzeitig, so fängt’s mit den Linien an. Die Hand springt an jeden Punkt der Fläche, wobei sich mit größer werdender Verdichtung bevorzugte Richtungsverläufe herausbilden und herausbilden sollen.” (23) Hier spricht eine Geometrie der Hand, die zu immer weiterschreitender Vernetzung und Vergitterung führt. Peter Wechslers Arbeit ist eine organische Konstruktion, die nicht äußerlich nach einem (mathematischen oder naturalen) Muster, sondern innerlich nach einem „Bild des zu erwartenden Gesamteindrucks” (24), d. h. prospektiv, erfolgt.

In mancher Hinsicht wäre für Wechslers Arbeiten durchaus der Ausdruck „radikale Malerei” im Sinne von „an die äußerste Grenze des Mediums gelangt” zutreffend, wäre dieser Terminus nicht durch die Position einiger Maler der 80er Jahre theoretisch besetzt. Allerdings, die visuelle Metaphysik, die in dem theoretischen Entwurf dieser Maler mitschwingt, erscheint eine philosophische Unerträglichkeit. Im Text „Outside the Cartouche”, der 1986 vier Ausstellungen von Joseph Marioni und Günther Umberg begleitete, wird von der radikalen Malerei als dem nahezu ausschließlichen Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung gesprochen: „Radikale Malerei ist Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung, kein Vehikel, um Informationen weiterzugeben [...]” (25) und die Position gipfelt gleichsam in dem Satz: „Die Sinnesempfindung, die das Gemälde ist, vermittelt nichts, gibt nichts wieder und stellt nichts dar außer sich selbst. Es ist das Ding an sich. Es ist nicht abstrakt, es ist keine Sprache. Es ist eine ursprüngliche Empfindung, aktiv und wirklich.” (26) Darin drückt sich klar und deutlich die Position eines sensualistischen Essentialismus aus, die der Sinnesempfindung, welche das Werk sein soll, die Bedeutung eines Dinges an sich, d. h. eines Wahrhaften und Wirklichen der Malerei schlechthin, zuschreibt. Abgesehen von der philosophischen Naivität ist dies auch kunsttheoretisch inakzeptabel.

Damit wird nicht gesagt, daß der Sinnesempfindung kein Platz einzuräumen ist. Im Gegenteil, ihr kommt eine der wesentlichen Bedeutungen im Werk zu, aber eben nur eine, so daß sich dasselbe nicht auf dieselbe reduziert. Ich halte es in diesem Sinne mit Cézanne: „Man muß nachdenken, das Auge reicht nicht aus, es braucht das Nachdenken. Die Arbeit und die Überlegung müssen die Farbempfindung entwickeln.” (27) In diesem Punkte gehört ein Denken mit den Stoffen, ob Bleistift oder Farbe, zu den wesentlichen Voraussetzungen der Arbeit und des Werkes, um es nicht verflachen zu lassen. Gegenständliches Denken und Handeln informiert gegebene Sinnlichkeit und steigert die Empfindung. Ein bloß sensualistischer Ansatz stellt das Denken abstrakt und nicht konkret mit den Dingen vor. Ich habe an anderer Stelle für diesen Zusammenhang den Begriff der Wahrnehmungshandlung eingeführt (28) und darauf verwiesen, daß die künstlerische Erfassung der kreativen Möglichkeiten der Materialien und Formen, d. h. auch die gegenständliche Auffassung bestimmter Fähigkeiten, stets mit einem Denken und Tun verknüpft ist.

Bei Peter Wechsler erscheint dieser Zusammenhang wie selbstverständlich gegeben, denn, um die Manifestation des inneren Erwartungsbildes zu erreichen, sind ständig Überlegungen neben den Handlungen zu führen. Dies drückt sich nicht nur und wie selbstverständlich in der Sorgfalt seiner Materialwahl aus, in den Entscheidungen, die er hinsichtlich der Richtungsverläufe der Linien im Ablauf der Wahrnehmungshandlungen und in Hinblick auf das zu erwartende Gesamtbild trifft, sondern und insbesondere hinsichtlich der Vermeidung jeglicher Automatismen, sei es die eines psychischen Automatismus mit assoziativen Bilderketten, sei es der Automatismus der Handbewegung zu einem gedanken- und erlebnislosen Tun, oder der Automatismus, der durch Herstellen von bestimmten Bedingungen das Material in seiner chemisch-physikalischen Reaktionsweise sich selbst überläßt, den Künstler zu einem distanzierten Beobachter stilisiert und von einer Vermeidung formalistisch-subjektiver Kriterien mit dem Quasi-Anspruch einer Objektivität spricht. Es ist zu sagen, daß bei Peter Wechsler die Kategorie einer formalen und materiellen Dichte im künstlerischen Handlungsentwurf eine bedeutende Funktion hat.

Damit komme ich auf einen weiteren Punkt zu sprechen, der zwei Begriffe in einem Wechselverhältnis thematisiert, der verdichtete Kunstbegriff und die Idee des Blicks. Beide fügen sich zur athetischen Funktion von Zeichnung und Malerei. Ein erster Ansatz zur Idee des Blicks findet sich bei Lacan und Bryson. (29) Es geht hier um eine Erschütterung der Subjektposition aus anthropozentrischer Sicht. Die Idee des Blicks enthält die Idee des Zurückblickens des anderen, ist aber nicht so zu verstehen, „daß das Objekt zu einem Subjekt wird, daß man es anthropomorphisiert.” (30) Peter Eisenman versucht dem anhand des von Gilles Deleuze inaugurierten Begriffs der Falte (31) nachzugehen: „Für Deleuze drückt der gefaltete Raum ein neues Verhältnis zwischen den Grundkategorien der traditionellen Sehweise aus – wie zum Beispiel zwischen Vertikalität und Horizontalität, Figur und Grund, Innen und Außen. Anders als der Raum der klassischen Sehordnung überwindet der Gedanke des gefalteten Raums die Wahrnehmungsfixierung zugunsten einer zeitlichen Modulation. Durch die Faltung wird nicht länger die planimetrische Projektion bevorzugt; statt dessen gibt es eine veränderliche Krümmung. Deleuzes Gedanke der Faltung ist weit radikaler als Origami, denn die Faltung beinhaltet weder eine narrative noch eine lineare Abfolge; sie besitzt, bezogen auf den traditionellen Sehraum, die Eigenschaft des Un-Gesehenen” (32), und paraphrasiert dies am Möbiusband, bei dem zwischen dem Innen und Außen ein kontinuierlicher Zusammenhang besteht.

Durch eine Auflösung traditioneller Schichtungskategorien und Sehfixierungen entsteht eine Aufweichung der üblichen Subjektzentriertheit. „Man deckt nicht mehr zu, man läßt aufsteigen, anhäufen, aufschichten, durchqueren, emporheben, falten. Das ist ein Aufstieg des Bodens [...]” (33) Die Elemente werden nicht mehr bloß über die Fläche und den Bildraum verteilt, sondern verflochten, durchquert. Es erscheint notwendig, daß sie einer Krümmung und Irritation unterzogen werden, damit sie einer bloßen kompositorischen Verteilung und Setzung entzogen und zu einem Geflecht räumlicher Spannungen und Entspannungen gemacht werden. „Die Falten-Materie ist eine Zeit-Materie, […] Kurz, insofern Falten nicht dem Entfalten entgegengesetzt ist, ist es Spannen-Entspannen, Zusammenziehen-Ausdehnen, Komprimieren-Explodieren.” (34)

Auch bei Peter Wechsler wird eine planimetrische Sehordnung empfindlich gekränkt, der Bildraum durch die materiellen Konzentrationen (Verstofflichungen) geknittert und gefaltet und Innen und Außen gleichsam aufgeweicht. Indem das Oben und Unten, Innen und Außen (Empfindung – Materie) im vergitterten, verflochtenen, verknoteten Liniennetz irritiert, Handschriftliches aufgehoben, Offenes geschlossen, Geschlossenes offen, Vereinzeltes gebunden, Gebundenes vereinzelt ist, gerät der Blick aus den gewohnten Fugen des Subjekts in die Spannung des Objekts, in eine Schleife von Sehen und Gesehen-Werden. Alle diese Faktoren spielen mit einem Moment der Zeit. Es ist wichtig zu bemerken, daß Peter Wechslers Bilder nur über einen sehr langen und arbeitsintensiven Zeitraum entstehen. Die Zeit entschwindet im Raum: „Die Linien sollen in prägnanter Ausformung erstarrt erscheinen.” (35) „Was die doch fallweise lange Arbeits-Dauer betrifft, so sage ich schon: Ich kultiviere einen anachronistischen Umgang mit der Zeit. Im Raumnetz verflochten, in Knotenpunkten verwachsen sind: Anfangspunkt = Endpunkt = Zielpunkt = Linienmittelpunkt = peripheres Zentrum = jeweiliges Zentrum = Ausgangspunkt = Endpunkt. Punkt.” (36)

Der Idee des Blicks wäre bei Peter Wechsler keine Möglichkeit eingeräumt, wenn nicht einer spezifischen Konfiguration der Dichte, und d. h., wenn nicht den spezifischen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Materialien Papier, Grundierung, Farbe, Bleistift usw. nachgegangen und diese auf eine Stufe der Selbstentäußerung gebracht würden. Die Verdichtungen legen Fähigkeiten und kreative Potentiale des Stoffes frei und bleiben weder auf subjektive Kreativitätspotentiale und Äußerungszwänge beschränkt noch auf chemisch-physikalisch objektivierte Selbstüberlassungen der Materialien eingegrenzt. Der verdichtete Kunstbegriff enthält einen Begriff vom Material, das in eine seine kreativen Potentiale berücksichtigende poietische Konfiguration gelenkt ist. Das gestaltete Material in Peter Wechslers Arbeiten denkt. Das ist ein entscheidender Faktor. Und in diesem Sinne ist auch die Arbeit von Peter Wechsler radikal.


Fußnoten:

1
Gilles Deleuze, Die Falte, Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main 1996, S. 48 Zurück
2
Cajus Plinius Secundus, Naturgeschichte, Buch 35, V, Stuttgart 1856, 31. Bändchen, S. 3953 Zurück
3
gemeint ist einfach die Erde Zurück
4
ebenda, XLIII, Seite 4019; Zurück
5
bei Athenagoras (leget. pro Christ, c.14) wird die Tochter des Töpfers Butades Cora genannt Zurück
6
Die historische Wandlung von der Fabel zum Mythos wäre eine eigene Abhandlung wert, desgleichen der bisher noch unberücksichtigt gebliebene Aspekt der Kategorie „Geschlecht”, da es sich hier ja um eine Frau handelt, der die Bedeutung ‘die Erfinderin der Malerei zu sein’ zugeschrieben wird. Zurück
7
Michael Wetzel, Die Wahrheit nach der Malerei, München 1997, S. 22 Zurück
8
die Gegenüberstellung von „heuretisch - mimetisch” entstammt dem Begriffsvokabular von Erwin Panofsky, vgl. Idea, Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 1989 Zurück
9
vgl. ebenda Zurück
10
Federico Zuccari, L’Idea de’Pittori, Scultori et Architetti, Torino 1607 Zurück
11
„Er wird vielfach, aber immer gleichsinnig, definiert als cosa immaginata, als concetto interno formato nella mente, als oggetto dell’intelletto, als ordine, regola, sogar als scintilla della divinità ...” Max Imdahl, Farbe, Kunsthistorische Reflexionen in Frankreich, München 1987, S. 36 Zurück
12
vgl. neben Max Imdahl (ebenda), Lorenz Dittman, Farbgestaltung und Farbtheorie in der abendländischen Malerei, Darmstadt 1987 Zurück
13
vgl. Max Imdahl, ebenda Zurück
14
ebenda, S. 90 Zurück
15
Der Ausdruck „poietisch” entstammt dem griechischen poiesis der zwar auch die Poesie oder Dichtkunst meint, seiner ursprünglichen Bedeutung nach aber „Hervorbringung, Herstellung, Verfertigung”. Bei Platon und Aristoteles erscheint er unter anderem im Zusammenhang mit einer Dreiteilung der Wissenschaft in Theorie, Praxis und Poiesis, d.h. der gedanklichen oder begrifflichen Betrachtung, der Ausübung und der Hervorbringung. Zurück
16
vgl. dazu meinen Begriff der intentionalen Gestaltung und dem seinen gewöhnlichen Bedeutungsgehalt nach veränderten Begriff der Intention in: Ingo Nussbaumer, Malerei als Proposition, Konzept – Intention – Dimension, Wien 1997. Unter der Intention wird dort die Bestimmtheit oder Gerichtetheit eines empirischen Gegenstandes auf seine ihm potentiell zukommende Fähigkeit verstanden, die in der Wahrnehmung durch eine eigene Art der Erfassung (intuitive Apprehension) präsent und durch eine Handlung aktualisiert werden kann. Zurück
17
Bruce Glaser, Fragen an Stella und Judd, in: Minimal Art, eine kritische Retrospektive, Basel 1995, S. 45 Zurück
18
ebenda in diesem Interview, D. Judd, S. 41 Zurück
19
Barnett Newman, Schriften und InterviewS. 1925-1970, Bern-Berlin 1976, S 124-125 Zurück
20
Donald Judd, Spezifische Objekte, aus: Minimal Art, Eine kritische Retrospektive, Dresden-Basel 1995, S. 59 Zurück
21
„einschreiben” hier vom derridaschen Ausdruck „Einschreibung”, der universeller als bloß „Generieren eines Schriftbildes” zu lesen ist. Zurück
22
Duden, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1963, S. 777 Zurück
23
Peter Wechsler, Notizen für einen Freund, 1997, unveröffentlicht Zurück
24
ebenda Zurück
25
Joseph Marioni / Günter Umberg, Outside the Cartouche, Zu Fragen des Betrachters in der radikalen Malerei, München 1986, S. 10 Zurück
26
ebenda S. 12, Hervorhebung kursiv neu Zurück
27
Gespräche mit Cézanne, Zürich 1982, S. 115 Zurück
28
Ingo Nussbaumer, Malerei als Proposition, Wien 1997 S. 18 Zurück
29
Norman Bryson, The gaze in the expanded field, in: Hal Foster, Vision and Visuality, Seattle 1988, 104ff., entnommen aus Peter Eisenman, Aura und Exzeß, Zur Überwindung der Metaphysik in der Architektur, Wien 1995, S. 208 Zurück
30
Peter Eisenman, ebenda S. 210 Zurück
31
„Die ins Unendliche gehende Falte ist das Charakteristikum des Barock. Und zunächst differenziert er sie nach zwei Richtungen, nach zwei Unendlichen, wie wenn das Unendliche zwei Etagen besäße: Die Faltungen der Materie und die Falten in der Seele.” Gilles Deleuze, Die Falte, Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main 1996, S 11 Zurück
32
ebenda, S. 211 Zurück
33
Gilles Deleuze, Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main 1996, S. 231 Zurück
34
Gilles Deleuze, Die Falte, Leibniz und der Barock, Frankfurt am Main 1996, S. 17-18 Zurück
35
Peter Wechsler, Notizen an einen Freund, 1997 unveröffentlicht Zurück
36
ebenda Zurück