Ingo Nussbaumer die Figur des Bildes

„Alle Täuschung macht einen widrigen Eindruck wie aller Betrug. Zum Beispiel Wachsfiguren werden immer etwas Zurückstoßendes haben, je täuschender sie gemacht sind. Ein Bild muß sich als Bild, als Menschenwerk gleich darstellen, nicht aber als Natur gleich täuschen wollen.”
Caspar David Friedrich

Eine Dunkelheit, die sich wie von selbst öffnend über ein Gefüge von teils samten, teils glänzend wirkenden Linien und Strichen legt, eine Transparenz, in der Bündelungen weder leicht noch schwer wirken und trotzdem äußerste Sättigung erreichen, ein Bildraum, der sich nach innen und außen wölbt, biegt, sich vergittert und öffnet bildet in umrisshafter Charakterisierung die Figur des Bildes (1) : Werkverzeichnis Nr. XVI (2) von Peter Wechsler.

Der Betrachter ist ein Akteur, denn es gibt keine fixe Distanz, aus der sich das Bild erschließen könnte. Links, rechts, Mitte vorne wie hinten eröffnen einen je differenten Eindruck, der sich im Gehen der Distanzen und Wechseln der jeweiligen Blickwinkel zu einem Ganzen des Bildes selektiert. (3) Daraus resultiert eine Negation der Kategorie des Hermetischen. Die athetische Formation (4) der Dichte und Bildstruktur, d. h. das sich auf neuer Ebene konkretisierende Weder Noch der Leichtigkeit und Schwere, des Hellen und Dunkeln, des Lockeren und Strengen, Flüssigen und Festen verhindert, dass sich bei genauerer Betrachtung ein Eindruck von hermetischer Geschlossenheit ergibt.

Bedeutsamer in diesem Zusammenhang aber ist, dass sich durch die Figur des Bildes ein Bildbegriff (5) verdeutlicht. Im Bildbegriff synergieren Bild (imago) und Eindruck (impressio) in eine unzertrennliche Einheit, d. h. zu einem Bildeindruck: das Konkretisierte wird angewandte Theorie und entzieht sich damit der Beliebigkeit der Struktur, ohne erzwungener Raum, erzwungene Struktur zu werden. Auch wenn es sich hier um eine Proposition (Aussage) eines Bildes (im Unterschied zur Aussage eines Satzes) handelt, die sich aus mehreren Bildbestandteilen konstituiert, so lässt sie sich doch nur aus der Totalität der Bildeindrücke gleichsam simultan erfassen (simul et non successive) (6). Dadurch entsteht eine Mächtigkeit des Bildes, die man auch die imaginative Stärke eines Bildes nennen kann. Im Bildbegriff spricht sich die imaginative Stärke eines Bildes unmittelbar und auf einmal aus.

Das Bild mit dem Werkverzeichnis Nr. XVI macht dies an mehreren Punkten deutlich: Die Linien als die elementaren Konstituenzien des Bildes entfalten sich nur im Verband mit anderen Linien. Als gebündelte und verdichtete formieren sie sich zu Linienbüscheln. Diese bilden die Konstituenzien der nächsthöheren Ebene, die des Bildraumes – sie synergieren als solche wiederum im Verband mit anderen Linienbüscheln zu einer in sich bewegten, sich verdunkelnden, aufhellenden, zurücknehmenden, nach vorne wölbenden, sich knitternden und schimmernden Struktur. Die Dunkelheit und Schwere, die sich scheinbar durch den hohen Verdichtungsgrad der Linien über das ganze Bild legen, heben sich durch die Dynamik der Struktur wieder auf und entfalten ein eigenes Gewicht der imaginativen Präsenz. Die Helligkeit des an manchen Stellen durchschimmernden weißen Papiers bewirkt im Ganzen des Gefüges eine Transparenz. Es eröffnet sich ein Bildraum in dem die Dimension des Bildes plötzlich an Energie gewinnt und zur ureigenen Sprache des Bildes findet.


Fußnoten:

1
Der „abstrakte” Ausdruck „die Figur des Bildes” wurde hier eingeführt, um auf eine kategoriale Struktur aufmerksam zu machen, aus der sich das Bild charakterisieren und aufschlüsseln lässt. In der Mathematik, Logik, Grammatik, Rethorik usw. spricht man auch dann von Figuren, wenn es sich nicht um geometrisch anschauliche Gebilde wie Dreieck, Quadrat und Kreis handelt. Allen Figuren ist aber eine Art von Geschlossenheit gemeinsam. Für die Beschreibung der Figur des Bildes wurden oben drei Begriffe (Dunkelheit, Transparenz, Bildraum) angeführt. Es wird damit aber nicht behauptet, dass sich die Figur des Bildes mit diesen erschöpft oder nur aus diesen drei Begriffen bestehen könnte. Zurück
2
Die Katalogisierung der Werke unternimmt Peter Wechsler auf zweifache Art: Römische Ziffern stehen für Langzeitprojekte, arabische Ziffern für kurzeitige bzw. fortlaufende Projekte. Zurück
3
Der Ausdruck „selektiert” wurde hier ganz bewusst gewählt. Er hat die Aufgabe darauf hinzuweisen, dass aus der Gesamtheit der Eindrücke die bedeutsameren von den unbedeutsameren gefiltert werden. Zurück
4
Zum Begriff der athetischen Formation und Konfiguration vgl. meinen Essay „Die Idee des Blicks, Zur athetischen Konfiguration von Zeichnung und Malerei” in: Peter Wechsler, Geometrie der Hand, Triton: Wien 1998 Zurück
5
Der Bildbegriff gehört seit Mitte der neunziger Jahre durch die von G. Böhm (vgl. dazu: Was ist ein Bild? / Hrsg. Gottfried Böhm, München: Fink 1994, Seite 13 ff) eingeführte Bezeichnung „iconic turn” wieder zu den mehr beachteten Kategorien der Kunsttheorie. Er setzt voraus, dass es eine ikonische Anschauungsweise gibt, die sich von einer linguistischen differenzieren lässt (vgl. ebenda u.a. auch Max Imdahl, Ikonik, Bilder und ihre Anschauung, Seite 300ff). Zurück
6
Der Ausdruck „simul et non successive” entstammt dem Vokabular von Descartes – Regulae ad directionem ingenii (Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft): Regula XI, 407, 16, Hamburg 1973 und steht im Kontext der neuzeitlichen Differenzierung von Intuition und Deduktion, intuitivem und diskursivem Denken. Zurück