Eugen Gomringer Zeichnen als reflektierte Identität

Die kunstrelevanten Daten der Biografie von Peter Wechsler weisen ihn als Zeichner und Tiefdruckgrafiker und nur zwischenhinein auch noch als Maler von Ölbildern aus. Wenn hin und wieder sein Werk als ein malerisches beschrieben wird, stimmt das insofern, als der Künstler die Farbe kennt und sich ihrer zu bedienen weiß, vor allem jedoch darin, daß Farbe durch seine Arbeitsmethode sozusagen unter der Hand entsteht – beim Zeichnen. Noch vor jeder Entscheidung, ob mit oder ohne Farbe gearbeitet werden soll, setzt Sinnlichkeit als sensible Bewegung ein, stehen Impuls und Geste.

Ein Merkmal gegenwärtiger Kunst und des Kunsterlebnisses ist es, sich nicht nur dem Bild als bereits abgesondertem und konnexartig gestaltetem Wahrnehmungsgegenstand zuzuwenden, sondern dem abgesonderten und unbestimmten Rest, um dann die verschiedenen, dem menschlichen Handeln – was etwas mit der Hand zu tun hat – zur Verfügung stehenden Realisierungsmöglichkeiten zu ergründen und zu erproben. Aus der Geste wird Zeichnung, Zeichnung jedoch nicht unbedingt aus Geste. Daß der Künstler unter „Geste” oder „Gestischem” kein wildes, unbeherrschtes Herumfahren auf der Leinwand versteht, sondern grundsätzlich mit der Hand ausgeführte Bewegung, wird bei fortschreitender Beobachtung des Werkes und seiner Herstellung deutlich werden. Im gleichen Sinne versteht sich der Begriff selbstverständlich auch in der vorliegenden Beschreibung.

Das Werk von Peter Wechsler entsteht durch Zeichnen, das beides ist: Geste und Technik. Ist die Bewegung auch im Bildobjekt bereits fixiert, so wie sie dem Betrachter fertiger Werke begegnet, ist das Gestische im Geschehen doch immer noch fortwirkend. Besonders die jüngeren Werke – Bleistift auf Papier – lassen eine fast unmittelbare Nähe der Entstehung empfinden. Allgemein ist es im weiten Feld der künstlerischen Zeichnung, also nicht der einfachen Notiz und Notation, die visuelle Erfahrbarkeit eines unmittelbaren Denkens oder psychischen Zustandes, welche jedes Blatt so faszinierend unterschiedlich macht. Die Technik der Übertragung ist dabei in jedem Fall nicht mehr und nicht weniger als das sich oft mühsam angeeignete und immer wieder zu erkundende Hilfsmittel, die Begegnung an der Oberfläche. Mit Johann Gottlieb Fichte möchte man deshalb von der Zeichnung, von ihr besonders, als einer „Sichtkonstruktion” oder „Nachkonstruktion” ursprünglichen Lebens sprechen, welche das Bild eben „nur” zum Bild werden lässt.

Auch Peter Wechslers Zeichnung entgeht trotz Nähe und Nachempfindung diesem grundsätzlichen Verhältnis nicht. Es hat sich bei ihm sogar ein persönlicher Stil herausgebildet, der als „Nachkonstruktion” für das ursprüngliche Bild spricht. Es ist ein Vorzug dieser Stilbildung, daß der Beobachter den unbestimmten Rest, oder nennen wir es den erfahrbaren Zustand, leichter lesen kann, als wenn sich zum Beispiel Blatt um Blatt, wie das bei Tagebuchblättern oft ersichtlich ist, anders darstellt. Es wird der Schluß gewagt, daß des Künstlers Denkbewegungen und psychische Motivationen sich mit einer bestimmten Gestaltung verständigen, so daß deren Merkmale als Detektoren dienen können.

Seit Jahren hat Peter Wechsler sich auf wenige solche Merkmale konzentriert. Dieses „Konzentrieren” trifft dabei den Kern der Gestaltung. Mit wechselnder Intensität von einer undurchdringlichen Dichte bis zum lockeren, duftig leichten Zeichnen fächern sich die Konzentrate über die Fläche. Sie füllen das Blatt randvoll, was einen Schimmer von Farbe hervorruft, oder sie weben zarte Gespinste wie leichte Poesien aufs Blatt, das in einem solchen Fall viel Raum bietet. Es sind in diesen Konzentraten zwei Bewegungen vorherrschend: eine kreisbogenartige, die von Geste sprechen läßt, und eine strahlenförmige, die in ihrer Zielsicherheit, sich mit vielen anderen Strahlen immer wieder in einem Zentrum zu verdichten, einen verpflichtenden Eindruck macht. Beide Bewegungen eignen sich zur Bildung von Strukturen unterschiedlicher Spannungen. Sie pflanzen sich verhäkelnd fort. Es sind soweit konnexartig gestaltete Wahrnehmungsgegenstände, die etwas Geschehenes zwar konkretisieren, durch die Art ihres Wachstums und ihrer Ausbreitung – die Kunstpsychologie müßte sich hier mit Begriffen der Biologie helfen – setzt sich ihre Bewegung aber optisch vor dem Beobachter als ein atmendes Gewebe fort. Hier atmen sozusagen Denkbewegungen im Verein mit psychischer Motivation.

Es ist aber auch die Art dieser Konzentrate, das Verpflichtende in ihrer Gestaltung, das an eine Verständigung von ursprünglichem Leben mit der „Sichtkonstruktion” erinnert. Es offenbart sich eine Künstlerpersönlichkeit, die das Lineare mit Konzentrik zu vereinigen sucht und es auch unternimmt und also gestaltet. Nicht nur in der Kunst fand diese Auseinandersetzung statt, aber sie setzt sich hier – als eine Aufgabe für sichtbare Darstellung – in zahlreichen Formulierungen fort. Im Mittelpunkt steht die Persönlichkeit, die sich nicht mehr auf einer Schiene bewegt, nicht mehr, wie das Manager vor Jahren in ihrem Denken wünschten, sich auf eine Schiene bringen läßt, sondern sich konzentrisch die Umgebung aneignet bzw. sich mit ihr auseinandersetzt.

Peter Wechsler, als Zeitgenosse in diese Auseinandersetzung hineingestellt, unternimmt es gestisch und reflektierend, seine Identität in einer überindividuellen symbolischen Ordnung aufzuheben. Er muß sich deshalb auf wenige Muster beschränken, um sich nicht zu verzetteln. Auch hat er sich diese Muster erarbeitet und er arbeitet weiter daran. Seine oft alles überspannenden Gewebe empfindet der Beobachter als Aneignungen möglichst vieler Bereiche mit Hilfe seiner Konzentrate. Bogenartige Bewegungen und lineare Strahlungen sind dabei auch malerische Elemente, die durch Verdichtungen Schwerpunkte setzen und damit, oft im Gegensatz zu den lyrischen Gespinsten, Elemente von epischer Breite werden. Um das Porträt von Peter Wechsler, das seine Zeichnungen zweifellos auch sind, in seiner Vielschichtigkeit zu charakterisieren, wäre es nicht unangebracht, Gegensatzpaare von Begriffen, die das Repertoire der Kunst übersteigen, sprechen zu lassen. So wenn in den undurchdringlichsten Schnittpunkten vieler Linien eine egozentrische Bewegung empfunden wird, die sowohl einwärts wie auswärts gerichtet ist, oder wenn in den weit ausholenden Bogen, die nur mit großzügiger Geste geschaffen werden können, eine befreite, altruistische Aktion sich geradezu als Interpretation aufdrängt.

Peter Wechsler arbeitet an einem künstlerischen Werk, das leidenschaftlich aktuell ist.