Burghart Schmidt Lineare Texturen | Räumliches im Flächigen

Leicht überarbeitete Version der Einführungsrede anläßlich der Vernissage im KunstSchauRaum von SPLITTER ART am 3. 10. 2001. Die besprochene Ausstellung lief unter dem Titel „Liniengewimmel” in Entsprechung der Werktitel der ausgetellten Radierfolge. Punktiert unterstrichene Passagen sind Ergänzungen von Peter Wechsler.

Die Arbeiten von Peter Wechsler, die Sie hier sehen, Kaltnadelradierungen (1), haben gleichsam als Vorwort einen Verweis auf die Arbeitszeit, die der Künstler eingesetzt hat: Von 1976 bis 2001 arbeitete der Künstler an diesen Drucken. Das war auch für mich zunächst einmal eine große Überraschung, die erste, die mir die Begegnung mit dem Arbeitskomplex, der hier ausgestellt ist, bereitete. Gerade ich bin im Zusammenhang mit Künstlern, die lange an einer Sache arbeiten, viel Zeit in ihre Projekte investieren, vertraut. Aber dies ist nun wirklich eine ganz lange Zeit, die andere Interpreten dazu bewogen hat, auf ein Arbeiten gegen die Zeit oder gegen die Schnelligkeit der Zeit oder gegen die Beschleunigung der Zeit zu schließen. Stillstehen der Zeit und Ähnliches, das sind ja in unserer beschleunigten Gesellschaft mittlerweile beliebte Kontrathemen. Es gibt in Österreich einen Verein zur Verlangsamung der Zeit und Ähnliches. Trotzdem bin ich der Meinung, wenn Sie jetzt die Ergebnisse hier so anschauen in ihren verschiedenen Machartsvariationen Machartsvariationen: Zustandsdruck I von 1976 bis Zustandsdruck VIII von 2001, dann wird man merken, daß der Zeitfaktor hier weder verlangsamt noch gestoppt wird; auch wird er nicht entzeitigt oder zur Ruhe gebracht.

Tatsächlich scheint es mir plausibel, wenn man all die Blätter nach und nach genauer anschaut, daß sie von etwas erzählen, das mit Zeit zu tun hat und einen gegenläufigen Prozess meint. Wenn ein Zeichner, ein Graphiker, vornehmlich strichelnd arbeitet mit Linien arbeitet, diese als bevorzugtes formales Element einsetzt. Alterierend, je nach Arbeitsphase, werden die Linien langsam gesetzt, vorsichtig gezogen; dann wieder schneller, mit mehr Druck gezeichnet, einem impulsiverem Rhythmus folgend, wozu ja die Radierung etwas verführt, dann bekommt das, was er gezeichnet hat doch irgendwie ein Tempo durch die Art der Strichelarbeit. Ich meine den Begriff hier ganz technisch und nicht im Sinne der Pfuscherei: er hat etwas hingestrichelt hingekritzelt oder so. Und dieses Tempo dieser Rhythmus, bedingt durch die Bewegungen der zeichnenden Hand steckt in den Blättern, wird aber aufgefangen durch offensichtlich vordergründig zusammenhaltende Raster oder akzentuierende Raster, so würde ich mal eher sagen, weil die Raster nach außen hin sich fortsetzen. Diese Raster erwachsen aus langsamer, kleinteiliger Arbeit. Aus dieser kleinteilig-linearen Grundstruktur hervorgegangen, überlagern sie diese stellenweise, stützen sie vordergründig. Keineswegs ist die Rasterung ein vorgegebenes Formelement sondern Ausformung, Resultat eines langwierigen Zeichenprozesses. Das heißt, sie sind keine Rahmung, sondern sie sind ein Fragment aus einer Rasterung die weitergreifen könnte, weshalb ja auch hier diese verschiedenen Druckblätter dann vereinigbar waren auf der Ausstellungswand. Und doch: jedes Blatt steht für sich, muß als einzelne autonome Arbeit betrachtet werden. Die Zusammenstellung der 8 Arbeiten = 8 Zustandsdrucke zu einer scheinbar formalen Einheit erlaubt das Prozesshafte, den Arbeitsverlauf über die Jahre hinweg nachzuvollziehen, ermöglicht das vergleichende Betrachten der einzelnen Arbeitsphasen.

Es geht hier also um etwas, was ich jetzt nun als gestopptes Tempo bezeichnen möchte. Und tatsächlich ist es dieses merkwürdige Gegenläufigkeitsthema, welches die Blätter formal erst einmal erzählen; es wird begleitet durch das andere der Räumlichkeit, das erfahren Sie dann, wenn Sie ein wenig vergleichend die einzelnen Blätter sich anschauen.

Da vorne ist ein Exponat (2), welches die graphische Seite der Sache, also das Zeichnerische stärker hervorkehrt, dadurch, daß der helle Grund eine größere Rolle spielt, während gerade hier in der Hauptarbeit (1), welche Peter Wechsler als die Resultante betrachtet, die Kontrastierung mit dem Grund völlig weggefallen ist. Und das merken Sie gleich, wenn Sie die ausgestellten Arbeiten vergleichend anschauen; da vorne (2) treten Ihnen sofort Architekturen entgegen. Unter Architektur verstehe ich in diesem Fall eine Anlage, die eine große Raumtiefe eröffnet, sozusagen illusionistisch erzeugte Räumlichkeit. Sie sehen plötzlich in Gänge, in Bogengänge hinein oder auf Gewölbekonzentrationen und Ähnliches; während hier in den 8 Radierungen der Raum nicht keine Rolle spielt, sondern auf eine ganz kleine Differenz gebracht wurde.

Wenn ich deshalb in einem Fall von Architekturen sprach, so würde ich hier in Richtung auf diese Arbeiten (1) von Texturen sprechen, so wie das im Weben gemeint ist. Also: Die Texturen eines Gewebes wollen ja verdichten und verdichten, können dies aber nur über die kleine Raumdifferenz tun. Das ist entscheidend. Hier hat man es also mit einem aufgefangenen Raum zu tun, der in die Fläche eingedrängt ist und insoferne möchte ich von kleiner Raumdifferenz sprechen. Wenn man das noch vergründlichen will, dann merkt man plötzlich, es sind die Kontraste der anderen Blätter, also der Kontrast der Zeichnung zum Grund des Blattes. Da vorne haben Sie aber die Variante einer stärkeren Kontrastierung zwischen dem Graphischen und der Grundfarbe des Grünen (3). Und gleich sehen Sie in Architekturen oder in Naturarchitekturen hinein. Das Grüne verführt hier vielleicht ein bißchen dazu, gleich Landschaftliches, Wälder zu sehen. Und Wälder können ja mit Architekturen große Verwandtschaft bekommen. Das ist der Kontrast, den das Architektonische erzielt. Der zurückgenommene minimalisierte Kontrast führt zu den Texturen.

Die kleine Differenz ist es auch, die mich an etwas erinnert hat, was in den letzten Jahrzehnten ein wenig eine Rolle spielte und zwar denke ich hier in diesem Fall eher an Interpretationen und weniger an Kunstrichtungen, welche die Kunsttheoretiker schon irgendwo eingerichtet hatten. Damit meine ich eine große Wende, die Jean François Lyotard vertreten hat. Es ging ihm nämlich darum, viele Ergebnisse, die man sonst als zugehörig zur Gegenstandslosen Kunst angesehen hat- wie die Arbeiten von Barnett Newman oder Daniel Buren – unter einer bestimmten Perspektive des Erhabenen zu verstehen. Die Interpretationsleistung von Lyotard war dabei, daß er die klassische Auffassung vom Erhabenen völlig unterwanderte. Ausgehend von Kant, ging das Erhabene immer darauf aus, es sei das Übergroße oder das unendlich Große, das unendlich Überlegene – es ging sozusagen immer in den Makrokosmos hinein. Nur einer ist mal im 19. Jahrhundert darauf verfallen, es anders zu interpretieren, das war Jean Paul, der sagte: „Wie viel erhabener ist doch das Zucken der Augenbraue von Zeus als all seine Blitze und Gewitter, die er in die Welt schickt”. Da war mal Sinn für das Erhabene des Minimalen, des unendlich Kleinen, das an sich genauso in den Erhabenheitskontext gehört wie das unendlich Große. Und nur Jean Paul hatte dafür Sinn gehabt. Mit diesem, dem unendlich Kleinen als Erhabenheitsthema, versucht etwa Lyotard das Wek von Barnett Newman zu interpretieren, wegen der dort sich abspielenden kleinen, kleinsten Differenzen, die aber ungeheuer aufreißen. Ein bißchen hat das mit dem zu tun, was wir als Monochromie bezeichnen und diese Arbeiten von Peter Wechsler erinnern an diese monochrome Malerei. Trotzdem gilt es, dass Monochromie eine Tendenz war, die nicht verwirklicht wurde durch das Minimale bei Barnett Newman.

Bei Daniel Buren ging es darum in der Streifung; Lyotard analysierte besonders die Streifenbilder von Buren: in der Kontrastierung der Streifen zueinander die Grenze zwischen den Streifen zum Thema zu machen – nicht die Streifentapete, die war nur Instrument des Themas „Grenze”, die keinen Platz im Raum einnimmt an der Begegnungslinie; es ist trotzdem keine Linie – entweder ist es das eine oder das andere, ganz digital und trotzdem diese Grenze das Minimalste ist, was man sich vorstellen kann, interpretiert Lyotard gerade dies als das Buren-Thema schlechthin.

Und das also wollte ich nur ganz kurz erwähnt haben, weil mir vorkommt, trotz allem hat das jetzt mit dem Erhabenen nichts zu tun. Wechsler erzählt uns hier eine andere Geschichte, den Aufbau des ganz Komplexen durch minimale Differenzen. Das passiert so im gestoppten Tempo, das passiert so im aufgefangenen Raum. Aufbau des Komplexen aus ganz kleinen Differenzen. Und deswegen, weil er an sich ein diskutierbares, ein diskursfähiges Thema hat, das überhaupt nicht überwältigen will, das nicht einstampfen will, das Sie nicht ins große „Ooh” und „Aah” führen will, darum habe ich auch nicht die mindeste Neigung, von Meditationsbildern zu sprechen, so wie das manche Betrachter tun, wie ich dies aus der Unterhaltung mit dem Künstler vernommen habe. Das hat etwas mit dem Erhabenen, mit dem Überwältigenden zu tun, obwohl man auch Meditation und Erhabenheit nicht miteinander verwechseln darf, weil Erhabenheit ist eben das Überwältigende und an sich ist die Meditation ein Entgegengesetztes, nämlich die Versenkung; aber in diesem Zusammenschluß mit sich selbst oder dem Zusammenschluß der Überwältigung durch das Erhabene, auch wenn es das unendlich Kleine wäre, besteht eine Entsprechung zwischen beiden. Aber damit haben meines Erachtens diese Radierungen nichts zu tun. Sie wollen uns nicht in die Meditation führen, sondern sie wollen uns einer Geschichte folgen lassen. Deswegen sprach ich so von der Diskursfähigkeit und tatsächlich ist das auch ein altes Thema, welches mir durch die Blätter aufgedrängt wird, nämlich, wieder 19. Jahrhundert, – ich nannte schon Jean Paul. Es war Theodor Vischer, der zu den gotischen Kathedralen sagte, sie wären nur aus einem bestimmten Betrachtungsort heraus erhaben, nämlich: wenn man zu weit weg entfernt ist, passiert ihnen, daß sie dann gegenüber so etwas wie den Alpen als Hintergrund möglicherweise nicht die Höhe haben, welche die Natur hervorbringen kann. Dann wären sie normal klein. Kommt man aber zu nahe, können sie nicht erhaben wirken, weil, wenn man direkt davor steht, sie zu kleinteilig wären. An einem bestimmten Ort, wo die Kleinteiligkeit zu versacken scheint, ist der ideale Betrachtungpunkt erreicht, wo gotische Kathedralen erhaben wirken. Aber so wie Vischer meine auch ich: selbst aus der Nahperspektive verändert sich nur der Eindruck bloßer, schlichter Erhabenheit, welche die Fassaden der Gotik uns vermitteln. Nicht, daß sie damit wertlos wären, also für die Nahbetrachtung Pfusch und von einem bestimmten entfernteren Betrachtungspunkt ein großartiges Werk. Die Spannungsgeschichte zwischen dem Kleinsten und dem Komplexen, das ist etwas, was ich aber aus gotischen Strukturen interpretativ auch auf dieses Unternehmen von Peter Wechsler deutend mal übertragen möchte, ohne damit behauptet zu haben, daß ich irgendwelche Kulturwertungen damit berühren wollte. Da möchte ich ganz nüchtern bleiben und nicht etwa, wie Kunstkritiker es so gerne tun, überhöhende Wertvergleiche einführen. So viel zu meinen Eindrücken in der Begegnung mit dem, was Peter Wechsler hier ausstellt. Und ich hoffe, Sie werden das nachprüfen können und vielleicht noch auf ganz andere Deutungseinfälle kommen ...


Fußnoten:

1
„Liniengewimmel”, Folge von acht Zustandsdrucken einer Kaltnadelradierung auf Kupfer, Plattengröße: 74 x 89,5 cm, Zustand 1 von 1976 bis Zustand 8 von 2001; verwendete Druckfarbe: schwarz. Außerdem gezeigt wurden: ein Probedruck des Zustandes 8 der gleichen Platte in grün und drei weitere kleinerformatige Radierungen von 1973–1976.
2
„Kleines Liniengewimmel”, Kaltnadelradierung auf Kupfer, 1973–1976, Plattengröße: 29,8 x 34,5 cm
3
„Liniengewimmel”, Zustand 8 in grün, gedruckt